Mein Liebstes,

es fällt mir nicht leicht, aber sein muss es doch. In diesen letzten Tagen des Jahres habe ich viel nachgedacht. Das Jahr geht zu Ende, ein neues beginnt, und auch ich bin an einem Wendepunkt angelangt. Wir hatten eine gute Zeit miteinander, haben so viele Jahre gemeinsam verbracht. Ich weiß noch, es war Liebe auf den ersten Blick. Ich sah dich dort stehen, und wusste, heute gehe ich nicht ohne dich nach Hause. Du warst auf allen wichtigen Wegen bei mir. Zum ersten richtigen Job hast du mich begleitet, und warst von da an immer an meiner Seite. Zu Anfang – weißt du noch? – haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Ohne Ziel und Plan haben wir die Gegend unsicher gemacht, immer Gas gegeben, immer Tempo gemacht, nichts konnte uns aufhalten. Und wie uns alle angeschaut haben! Mit dir konnte ich wirklich was vorzeigen. Männer, Frauen, Kinder – alle haben uns hinterhergeschaut, wenn wir vorbeikamen. Und die Urlaube! Ganz Europa haben wir gemeinsam erkundet, wir waren überall dort, wo etwas los war. Ein Wochenende in dieser Hauptstadt, das nächste im Wellesshotel auf dem Land. Du hast mir das Gefühl von Freiheit gegeben. Es ging immer irgendwie weiter, nichts konnte uns aufhalten. Obwohl, du hast schon viel geschluckt. Ich musste manchmal ganz schön tief in die Tasche greifen, wenn du wieder mal nicht genug bekommen konntest. Und dann dein Umfang. Ja, ich weiß, zu Anfang fand ich es toll. Schöne Kurven, ein ausgeprägtes Hinterteil, ich kann nicht leugnen, dass es mir sehr gefiel. Und natürlich spielt Größe eine Rolle, da können die anderen sagen, was sie wollen. Sind eh nur neidisch. Aber… in letzter Zeit fällt es immer öfter unangenehm auf.

Etwas hat sich verändert. Wie soll ich sagen, so richtig schön war es in den letzten Jahren nicht mehr. Es war nicht nur dein großer Durst und deine üppigen Kurven – auch von Freiheit habe ich nichts mehr gespürt. Ich fühlte mich eingeengt mit dir, es ging nicht mehr vorwärts. So richtig Gas gegeben haben wir schon lange nicht mehr. Es ging oft nur quälend langsam voran, und manchmal gar nicht mehr. Mit einem Lächeln auf den Lippen überholten uns andere, die wir früher stehen gelassen hätten. Und jetzt konnten wir nur zuschauen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal sage, aber es macht keinen Spaß mehr. Und außerdem stimmt auch die Atmosphäre nicht mehr. Es liegt etwas in der Luft. Es ist nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber ich kann es nicht mehr ignorieren. Jedes Mal, wenn ich zusehen muss, wie du Liter um Liter schluckst, wünsche ich mir einen frischen Wind um die Nase, einen Duft von Neuanfang. Ich wünsche mir, Sonnenstrahlen auf der Haut spüren zu können statt deiner immergleichen Kühle. Du wolltest es mir so angenehm wie möglich machen, das weiß ich. Doch mit dir fühle ich mich abgeschnitten von meiner Umgebung. Manchmal klingelt es in meinen Ohren und ich träume von einem Aufbruch ins Blaue (und ins Grüne) hinein, eine Landpartie auf eigenen Beinen und aus eigener Kraft.

Schon lange habe ich den Gedanken an einen Neuanfang mit mir herumgetragen. Warum ich nicht schon früher den Schritt unternommen habe, weiß ich nicht. Ich war es so lange gewohnt und konnte mir nicht vorstellen, wie es anders gehen könnte. Sehr lange dachte ich, ohne dich könnte ich gar nicht leben. Ich dachte, ohne dich wäre alles umständlicher, stressiger. Ich probierte, ohne dich auszukommen – und ich dachte, das ginge überhaupt nicht.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie überrascht ich war, dass ich gar keine Einschränkung fühlte! Im Gegenteil – ohne dich bin ich freier. Jetzt habe ich erkannt, dass ein Leben ohne dich möglich ist, und wie viel ich dadurch gewinne. Es gibt da etwas Neues, das mir viel bedeutet. Es bereitet mir Freude, es macht mich glücklicher und zufriedener als ich es je war. Obwohl es kaum Platz braucht, ist es eine Bereicherung für mich. Vielleicht hast du dich gewundert, warum ich dich in letzter Zeit so oft stehen lasse. Vielleicht hast du mich gestern gesehen, als ich damit an dir vorbeigeradelt bin.

Unser letzter gemeinsamer Moment ist gekommen. Auf dem Weg zum Autohändler werde ich ein letztes Mal andere Radfahrende an mir vorbeiziehen sehen, während ich im Ampelrückstau darauf warte, dass die Blechlawine weiterzuckelt. Ab morgen muss ich mich nicht mehr darüber ärgern, dass ich vor lauter Abgaswolken das Fenster nicht öffnen kann, und auch nicht mehr über die Legionen von offensichtlich unfähigen Fahrzeuglenkenden, die die Straßen verstopfen. Ich werde dann auch zu den Glücklichen gehören, die am Stau vorbeiradeln und entspannt ankommen. Ich freue mich schon darauf.

Ciao, mein ehemals liebstes Ding. Möge ein anderer Gefallen daran finden, dein übermäßiges Heck in eine Parklücke zu manövrieren und deine Spritsucht zu finanzieren. Ich werde eine neue Art von Freiheit genießen.

Dein ehemaliger Schlüsselbesitzer und Tankfüller